Was bisher geschah: Am Rande des Abgrunds

Der Plan wurde in Gang gesetzt, und ganz Zendikar steht auf dem Spiel. Chandra ist bereit, ihren Beitrag zu leisten, ebenso wie Kiora. Doch wenn Zendikar gerettet werden soll, müssen die Planeswalker den Plan vollkommen fehlerlos ausführen.


Die Luft roch alt und verbraucht, als wären selbst die Staubkörnchen nach Ulamogs Wüten in immer kleinere Teilchen zerfallen, bis sich der Niedergang Zendikars selbst als feiner Film über die Welt gelegt hatte.

Chandra hieb mit feurigen Armen durch die Luft und zog so die Aufmerksamkeit eines hundert Fuß großen, lebenverschlingenden Titanen auf sich. Das war tatsächlich Absicht. Irgendwie hatte man sie noch vor unfassbar wenigen Tagen mit dem ruhmreichen Titel „Äbtissin des Keralberg-Klosters“ geehrt. Sie fragte sich, welchen Titel sie nun wohl trug. Wahrscheinlich so etwas wie „Köder ersten Ranges“.

Chandra bildete die Nachhut einer von zwei Gruppen von Zendikari. Sie gehörte zu derjenigen, die Ulamog zugewiesen war. Während die Menge aus Kor, Vampiren, Goblins, Elfen und anderen Verbündeten auf den Sammelpunkt zumarschierte, ließ keiner den Titanen in ihrem Rücken aus den Augen. Chandra konnte es ihnen schlecht verübeln. Der Plan beinhaltete, dass sie sich so auffällig und verlockend lebendig wie möglich verhielten, um wie ein lohnendes Häppchen zu wirken.

In der Ferne konnte Chandra Gideon an der Spitze des anderen Teils der Lockstreitmacht sehen, die aus Kozileks Richtung kam. Sein Sural blitzte in der Sonne wie ein Leitstrahl für die Zendikari, die ihm folgten. Chandra fragte sich, ob Kozilek Gideons Waffe überhaupt sehen konnte oder ob er nur die Fünkchen an Energie wahrnahm, die sie hinter sich herzog.

Mitten im Weg der beiden Titanen standen Jace und Nissa wie Ameisen, die sich zwei alles zertrampelnden Riesen entgegenstellten. Auch dies war Absicht. Chandra sah Nissa, die auf der Kuppe eines felsigen Hügels stand und gemeinsam mit Jace jenen Zauber vorbereitete, der die Welt retten sollte.

Jaces Warnung kam, noch ehe Chandra das Keckern hörte. „Chandra, wir kümmern uns um sie. Halte Ulamog in Bewegung, so gut du nur kannst.

Eine Welle von Eldrazidrohnen krabbelte der Streitmacht, die als Köder dienen sollte, in den Weg. Ihre Gruppe konnte es sich nicht leisten, langsamer zu werden, um die Drohnen anzugreifen, und Chandra konnte sie von ihrer hinteren Position aus nicht beseitigen. Sie konnte nur hoffen, dass Jace recht hatte. Sie blickte auf und ließ zwei wirbelnde Flammenstöße auf die unzerstörbare Gesichtsplatte Ulamogs los.


Kiora, da kommt eine Gruppe aus dem Süden. Kannst du sie aufhalten?

Kiora richtete sich zu voller Größe auf und umfasste ihren Zweizack fester. Wellen aus Meerwasser umkreisten sie wie springende Delphine, hoben sie hoch und trugen sie über die Halimar-See auf das Land zu. Sie passierte den Hügel, wo der Gedankenmagier und die Elfe standen, und nickte Jace zu. Sie deutete mit dem Zweizack und wurde an der grasbewachsenen Ebene angespült, wo sie die Drohnen mit ihren Splitterkronen und die vielbeinigen Verwerter vor sich sah.

Der Eldrazischwarm würde die Flanke der Pyromagierin treffen. Mit einem Schwung ihrer mächtigen Waffe erhob sich eine Wand aus Wasser, traf das krabbelnde Gezücht wie der Hieb eines Meeresgottes und spülte es zurück über die nächste Anhöhe und in eine Schlucht hinein. Kiora drehte sich auf einem Strahl Meerwasser, um nach versprengten Angreifern Ausschau zu halten. Für den Augenblick war der Weg für die Kämpfer frei.

Sie sind aufgehalten“, dachte sie in Jaces Richtung.

Kiora blickte zu einer der Landmassen auf, die über dem Kontinent schwebte – eine Insel in der Luft, von der ein beständiger Nebel herabsank. Ein Schatten zog über die Landmasse und Kiora warf einen prüfenden Blick über die Schulter: Der Schatten wurde von Kozilek geworfen, dessen massiger Leib der Insel das Sonnenlicht stahl, während er sich ihr näherte. Sie verstand nun, womit sie es bei diesem sogenannten Titanen zu tun hatte. Dies war kein fleischgewordener Gott, sondern ein die Wirklichkeit verzerrendes Phänomen, das aus den Blinden Ewigkeiten hierher eingedrungen war. Ein kranker Schwindel, der sich in dem abspielte, was diese Welt im Innersten zusammenhielt. Kein Schwindler, nur ein Schwindel.

Der Plan, ihn anzulocken, ging bislang auf, aber das war auch nur der einfache Teil. Die entscheidende Aufgabe fiel dem Gedankenmagier und der Elfe zu: Zendikars Leylinien ohne die Unterstützung der Polyeder zu bündeln und die Titanen mithilfe der Energieadern zu binden, damit die Leylinien selbst den Kolossen die Macht aussaugen konnten. Das war unbekannte Magie, nie erprobt und auf äußerst gefährliche Weise auch kaum begreiflich.

Schlimmer noch: Der Versuch, einen Titanen der Eldrazi vollständig in diese Welt zu ziehen, war beispiellos. Die anderen Planeswalker hatten keinerlei Vorstellung vom Ausmaß der kosmischen Kräfte des Multiversums oder des Schadens, den sie anrichten konnten. Selbst die Elfe, die behauptete, eine persönliche Verbindung mit Zendikar zu haben, konnte unmöglich ahnen, welchen Einfluss dies alles auf die Welt haben würde. Zwischen Sieg und Niederlage stand nur eine Vermutung.

Kiora jedoch wäre froh gewesen, sich der Eldrazi endgültig entledigen zu können. Sie würde einfach abwarten und sehen, was sich ergab.

Kiora erhob sich auf einer Wassersäule, um über das Schlachtfeld zu spähen. In der Ferne, jenseits der Ruinen von Seetor, sah sie die ungeordneten Streitmächte der Zendikari herannahen – und die Titanen hinter ihnen. Unter ihr, auf einem kleinen Hügel, der über dem salzigen Tal der Halimar-Senke aufragte, standen der Gedankenmagier und die Elfe. Die Elfe, die glaubte, bei all dem hier das Zünglein an der Waage sein zu können.


Nissa war bei all dem hier das Zünglein an der Waage, und Chandra wusste es. Die beiden Lockstreitmächte vereinten sich unmittelbar vor Jace und Nissa.

Chandra, Gideon – das ist nahe genug. Zieht die Truppen auseinander. Die Titanen sind in Position!

Chandra riss die Faust nach oben und sandte einen zischenden Feuerball in den Himmel, der hoch über ihr prasselnd zersprang. Als die Zendikari das Signal sahen, begannen sie, sich zu verstreuen. Chandra rannte neben ihnen her und schickte nur zur Sicherheit noch weitere Flammen in die Luft. Gideon schloss zu ihr auf, und gemeinsam liefen sie den Hang am Rand der Senke hinauf, während der Boden in einem zarten Grün zu leuchten begann.

Chandra blickte hinter sich zu jenem felsigen Vorsprung, wo Nissa vor Magie sprühte.


Die Signalfeuer spiegelten sich in den Kronen von Kioras Wellen, sodass es aussah, als stünde das Meer in Flammen. Sie wandte sich um, um zu sehen, wie die Titanen in das Tal, das als Sammelpunkt gedient hatte, und damit in die Falle traten. Als die Elfe aufleuchtete, nahm Kiora einen tiefen Zug von der staubigen Luft.

Ranken aus heller, sattgrüner Magie wurden sichtbar, die das Land von Horizont zu Horizont durchzogen. Sie wanden und streckten sich und ordneten sich neu an, um auf die Elfe zuzustreben. Der Boden unter Nissas Füßen war erfüllt von Licht, und Kiora sah das gleiche Licht in den Augen der Elfe erstrahlen.

Ein heftiger Wind kam auf und der Himmel verdunkelte sich. Kiora sah den Gedankenmagier beobachten, wie sich das Muster der Leylinien drunten im Tal und unter Nissas Füßen formte. Sie hörte das Wispern der telepathischen Unterhaltung zwischen ihnen, als würde sie Geister bei einem drängenden Gespräch belauschen. Kiora verstand unzusammenhängende Wörter, die sich um die Form der Glyphe drehten, das Muster der Leylinien, eine unendliche Schleife, ein stabiles Feld aus konzentriertem Mana ...

Und auf einmal war das Muster da. Eine dreigeteilte Glyphe aus wildem, grünem Feuer erschien auf einer Breite von einhundert Fuß auf dem Boden des Tals. Meilenlange Schleifen aus purem Mana erblühten in der Glyphe, schlangen sich um die Titanen und zogen an ihnen.

Kozilek und Ulamog versuchten, davonzuwanken und sich dem Land zu entwinden – und nicht nur nach hinten, wie Kiora bemerkte, sondern hinauf. Die in die Leylinien verstrickten Titanen richteten sich auf, und für einen langen Augenblick, in dem Winde über die Landschaft peitschten, sah es so aus, als würden sie sich einfach losreißen. Jedes bisschen Spiel in den Manaschleifen wurde aufgebraucht, als sie höher und höher aufragten.

Doch dann zogen sich die Leylinien straff. Sie hielten – feste, gerade Linien, die die Titanen an Zendikar verankerten.

Das Kreischen der Titanen war markerschütternd. Die Erde geriet ins Rutschen, brach auf und bebte. Risse bildeten sich und scharfe Bruchstücke zerberstender Felsen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche, als sich das Land aufbäumte und wand. Der Zauber der Elfe hatte die Titanen tatsächlich zu fassen bekommen, und dies war ihre Antwort – jene Art von Antwort, die Welten vernichtete.

Überall um sie herum tauchten angreifende Eldrazi mit klackernden Kiefern auf. Kiora schwang sich auf eine neue Landzunge und warf eine Welle marodierender Eldrazi mit einer eigenen Welle aus Meerwasser zurück. Wind peitschte ihr die Finnen, als sie Mana herbeirief, mit dem sie einen Leviathan an ihre Seite befehlen wollte, doch sie spürte, wie das Land sich ihr widersetzte. Beinahe jeder Tropfen Mana wurde aufgesaugt, bevor Kiora ihn für sich nutzen konnte.

Der Zauber der Elfe hielt die Titanen fest, doch der Preis war, dass das gesamte Mana Zendikars dadurch absorbiert wurde. Würde sie das Land zugrunde gehen lassen, nur um sie gefangen zu halten?

„Nissa!“, rief der Gedankenmagier über den Wind hinweg. „Zieh an ihnen! Du musst sie in die Glyphe ziehen, um sie auszusaugen!“

Kiora sah, wie die Elfe sich mit ausgestreckten Armen mühte, die Macht der Leylinien durch sich und ihren Zauber zu bündeln. Sie schwang die Arme vom Boden bis zum Himmel, und ein neues Bündel Leylinien fuhr wie eine Knute auf die Titanen nieder. Das Land ächzte vor Anstrengung.

Etwas knirschte tief in der Erde, doch aus irgendeinem Grund klang das Geräusch für Kiora, als käme es von oben.

Eine Bewegung am Himmel zog Kioras Aufmerksamkeit auf sich. Um die mächtigen Titanen herum schwollen die Wolken an, und ihnen wuchsen Bäuche wie von einem Sturm, der sich in ihnen zusammenbraute. Doch dies war kein Sturm. Dies war etwas anderes. Die Farbe des Himmels wandelte sich von einem diesigen Blau zu brodelndem Purpur und Grün. Das Sonnenlicht flackerte, überschattet von einer sich rasch ausbreitenden, kräuselnden, polypenhaften Textur. Und zu Kioras Entsetzen sah sie mit an, was nun mit den Titanen geschah:

Sie wurden verzerrt und gebeugt und gestreckt.

Ihre Köpfe blähten sich auf und wurden zu langen Hälsen, die sich wie Regenbögen über den Himmel spannten.

Ihre Gesichter wurden breiter, nach innen eingedellt und erstreckten sich bis zum Horizont und wieder zurück.

Und dann begann es, Eldrazi zu regnen.


Das ist neu, dachte Chandra.

Der Himmel Zendikars war zu den Titanen geworden. Ihre Gestalten hielten alles umfangen, eine Kuppel aus Fleisch von der Farbe blauer Flecken, weiter Knochenflächen und Splittern so schwarz wie der Rand einer unvorstellbaren Leere. Anstatt dass die Titanen in Zendikar hineingezogen wurden, fühlte es sich eher so an, als wäre Zendikar nun im Inneren der Titanen – oder als ob sich irgendwie sämtliche Dimensionen verkehrt hätten und sich nun das Äußere ihrer gewaltigen Leiber in jede Richtung um Chandra herum erstreckte.

Ulamogs Oberkörper ragte noch immer über dem Schlachtfeld auf, aber seine Gliedmaßen und Tentakeln reckten sich verzerrt aus verschiedenen Punkten am Himmel. Ein Teil von Kozileks Krone dehnte sich immer weiter aus und kreiste wie ein irrsinniger Mond am rauen Firmament. Grenzen lösten sich auf und Wesenheiten verschmolzen miteinander. Unheimliche Ranken sprossen aus dem purpurnen Himmel herab, verdrehten und streckten sich und troffen zu Boden wie trichterförmige Wolken. Aus jeder schälten sich Eldrazi hervor, die auf Zendikar niedergingen, wo sie entweder eine anmutige Landung durchführten oder einen hässlichen Absturz erlitten.

Chandra rannte in den neuen Pulk aus Eldrazi, drosch mit den Armen auf die Kreaturen ein und schlug eine brennende Schneise durch sie hindurch. Verstörenderweise schienen die Massen an Eldrazi noch immer auf grausame Weise mit den beiden Titanen verbunden. Es wirkte sogar, als versuchte Chandra, in zwei gewaltige und miteinander verklebte Wesenheiten hineinzuschneiden, die den Himmel ausfüllten und weitaus unermesslicher waren, als die Titanen es jemals hätten sein können.

Sie sah Gideons Sural funkeln und hörte, wie er den Zendikari Befehle zurief. Kampfgebrüll ertönte, als die Streiter vorwärtsstürmten, um diese neue Armee der Eldrazi zurückzuschlagen, und gellende Schreie, als die Krieger in Stücke gerissen wurden.

Hinter sich hörte sie Nissa aufschreien.

„Nissa!“, rief Chandra instinktiv. Doch ihr Rufen wurde von den unnatürlichen Sturmböen und dem Kampfeslärm verschluckt.

Nissas Augen waren blind vor schimmerndem Grün, und Mana breitete sich in geraden Linien und in alle Richtungen von ihr zum Himmel aus. Die Leylinien zogen an der Glyphe und somit auch an Nissa. Chandra sah, wie sie kurz in die Luft gehoben wurde, hin zu dem von Titanen ausgefüllten Himmel. Sie fiel zurück zu Boden, wo sie mit zitternden Armen und zusammengebissenen Zähnen auf den Knien landete.

„Jace," rief Chandra, „sie kann das nicht lange aufrechterhalten!“

„Es klappt!“, rief Jace zurück. „Halte durch!“

Es klappt?“, spie Chandra aus. „Woher weißt du das?“ Sie schlug mit einem Feuerstoß ein paar der neu in Zendikar eingedrungenen Eldrazi zurück, die auf Nissa zukrabbelten.

Das Land erbebte mit einem Mal heftig. Scharen von Zendikari gingen zu Boden. Chandra sah, wie sich im ganzen Tal Risse auftaten, die sich weiteten und das Land verschlangen und den Vorsprung, auf dem Jace und Nissa standen, erzittern ließen. Über ihnen geschah etwas Neues mit den Titanen.


Kiora blickte zu der rankenüberwucherten Membran hinauf, zu der die Titanen geworden waren, und sah die Risse, die sich auf ihr ausbreiteten. Der Glyphenzauber hatte eine Verbindung zwischen den Titanen und Zendikar aufgebaut, und die Leylinien zersetzten die Eldrazi nun ganz langsam und Stückchen für Stückchen. Sie waren Wesen der Blinden Ewigkeiten und dass sie nun vollständig in die Wirklichkeit gezogen worden waren, zerrte an ihrer schieren Existenz. Und endlich begannen die Titanen auseinanderzubrechen.

Gleichzeitig jedoch brach auch das Land Zendikars auseinander und zwar viel, viel schneller. Die Luft war ein Sturm aus zerrissenen Böen. Das Meer wurde zu wirbelnden Wasserhosen. Kiora wusste, dass das Land unter ihren Füßen sich als Nächstes auflösen würde.

Kiora umfasste den Zweizack und spürte, wie seine Macht in ihrer Hand wuchs. Sie spürte, wie das Meer anschwoll, sich sammelte und ihrem Ruf antwortete. Doch gleichzeitig spürte sie seine Leere. Zendikar wurde in einen Wettstreit im bloßen Verzehren von Dingen gegen die Titanen geschickt – und die Titanen existierten nur, um Dinge zu verschlingen.

Der Gedankenmagier sah in ihre Richtung, und sie hörte seine Worte in ihrem Bewusstsein. „Jetzt, Kiora. Setze deine Wellen ein, um die Horden auszulöschen. Verschaffe Nissa mehr Zeit.

Kiora schwang den Zweizack mal hierhin, mal dorthin, und Meerwasser schlug über den herankriechenden Eldrazi zusammen. Doch einen letzten Zauber sparte sie sich noch für den richtigen Augenblick auf. Während sie die Schwärme zurückschlug, beobachtete sie die Landmasse über sich, dieselbe Insel mit den vielen Terrassen, die sie vor dem Beginn des Zaubers gesehen hatte. Solange diese Landmassen – diese Wahrzeichen ihrer Welt – in der Luft blieben, konnte sie der Elfe mehr Zeit verschaffen.


Chandras Finger juckten. Während das Land unter ihr entzweibrach, stöhnten und grollten die Titanen über ihr. Sprünge verliefen wie breiter werdende, gezackte Streifen am Himmel über sie hinweg. Sie sahen nicht nur furchterregend und weltumspannend aus. Vielleicht zum allerersten Mal wirkten sie zudem verwundbar.

Sie bemerkte Gideons Blick, als er an ihr vorbeilief, um zwei Eldrazidrohnen in Stücke zu hauen. Auch er spähte zum Himmel. „Wenn wir sie je verletzen können, dann jetzt“, sagte er und rannte in weiten Sätzen an ihr vorbei zu dem Vorsprung hinauf, auf dem Nissa stand.

Chandras Hände ballten sich zu Fäusten. Sie hatte ihre Aufgabe als Köder ersten Ranges erfüllt. Es war nun an der Zeit, etwas Endgültigeres beizusteuern.

„Jace!“, rief sie. „Lass mich sie erledigen! Lass sie mich zu Asche verbrennen!“

Nein!“, erwiderte Jace, laut ausgesprochen und in ihrem Kopf zugleich. „Weißt du nicht mehr? Jeder Schaden an den Titanen oder an Nissa wird die Leylinien durchtrennen und den Glyphenzauber zusammenbrechen lassen. Wir würden sie verlieren!

Chandra streckte eine Hand aus, die sofort weiß zu glühen begann. „Nicht wenn wir es mit einem einzigen Zauber schaffen.“

Ich sagte Nein“, gab Jace zurück. „Halte einfach nur diese Eldrazi auf!


Als Kiora sah, wie die schwebende Landmasse ins Trudeln geriet und herabzusinken begann, sank ihr Mut mit ihr. Sie taumelte der Oberfläche Zendikars entgegen, sprühte ihren Wasserfall in einer wilden Spirale von sich und stürzte in die aufgewühlte See, wo sie in Gischt zerstob. Kiora suchte den Himmel ab und sah weitere schwebende Landmassen um sie herum zu Boden fallen. Sie stürzten langsam herab, drehten sich in ungelenken Überschlägen und Schrauben, schlugen in der Landschaft ein und wirbelten unheilvolle Staubwolken auf.

Wir haben versagt, dachte Kiora.

Jetzt begriff sie es: Die Titanen waren nun mit dem Schicksal Zendikars verknüpft. Unter dem Zauberbann dieser Elfe konnten sie nur noch sterben, wenn auch Zendikar starb.

„Revane!“, schrie sie die Elfe an. „Es ist vorbei! Lass sie gehen!“

Nissas Kopf zuckte. Die Elfe hielt noch immer den Zauber aufrecht, aber Kiora wusste, dass sie sie gehört hatte.

Was?“, machte Jace. „Nein! Kiora, du musst die Schwärme in Schach halten! Wir müssen warten, bis der Zauber sie erledigt hat!

„Daraus wird nichts“, rief Kiora, umklammerte den Zweizack und deutete mit ihm zur Seite. „Wir haben unser Bestes getan. Aber wenn sie untergehen, geht Zendikar mit ihnen unter.“ Sie richtete die Spitzen des Zweizacks auf den Himmel voller Titanen. „Sie wollen doch schon fort. Lass sie gehen. Wir können an einem anderen Tag gegen sie kämpfen!“

Nissa schüttelte den Kopf, als sich ihr Körper mit den Leylinien streckte. In den Sorgenfalten auf ihrer Stirn sammelte sich Schweiß.

Jaces Mantel bauschte sich im peitschenden Wind. Seine Miene war ernst. „Sie müssen vernichtet werden – hier und jetzt!“, rief er. „Oder wir verdammen jede andere Welt zum Untergang und setzen Millionen von Leben aufs Spiel.“

Der arme Gedankenmagier begriff es nicht. Er war gewillt, an seinem Irrtum festzuhalten, selbst wenn das bedeutete, dass sie alle sterben würden. „Wir sind dabei, diese Welt hier zum Untergang zu verdammen“, sagte Kiora. „Diese Welt bricht auseinander. Und bald auch wir.“

„Lass den Plan Wirkung zeigen“, sagte Jace entschlossen.

Sie griff nach dem Zweizack und rief das Wasser zu Hilfe. „Wenn du es nicht zu Ende bringen willst, Beleren“, sagte sie, „dann werde ich es tun.“


Chandras Faust glühte, und ihr Blick war unverwandt zum Himmel gerichtet. „Jace, lass mich sie verbrennen!“, kreischte sie.

„Nein!“, rief Jace und wirbelte zu ihr herum.

Chandra sah die Meerfrau Kiora mit erhobener Waffe auf einer brausenden Woge vorbeirauschen. „Wir haben ihnen eine Lektion erteilt“, rief sie. „Sie werden nicht zurückkehren. Es ist Zeit, sie gehen zu lassen.“

Gideon kletterte auf den Vorsprung, um Nissa zu schützen. „Ich sehe das wie Chandra“, sagte er mit kräftiger Stimme über den tosenden Wind hinweg. „Wir können sie nicht gehen lassen, aber wir können sie so auch nicht festhalten. Jeder weitere Augenblick kostet uns noch mehr Leben.“

Eine zerschlagene Landmasse stürzte taumelnd in Richtung des Vorsprungs ab und krachte unweit der Glyphe in die Senke. Der Boden riss auf.

„Entscheidet euch ...bald ...“, presste Nissa durch zusammengebissene Zähne.

Die Meerfrau Kiora atmete schwer. „Du wirst den Zauber fallen lassen, Elfe“, sagte sie. Sie hob den Zweizack hoch und Chandra sah sich auftürmende Wellen vom Halimar herabdonnern. „Du sollst sie freilassen. Und wenn du das nicht freiwilligtust ...“

Ein Wall aus Wasser erhob sich drei Meilen breit in die Luft. Er verflocht sich wirbelnd zu einer einzigen Masse, einer schwebenden, schimmernden Form, die von Meerespflanzen, Korallen und Fischen durchsetzt war. Es war eine Kugel aus Meerwasser, die über ihnen schwebte. Kiora hatte die gesamte Halimar-See geleert und hielt sie nun allein durch die Kraft ihres Willens zusammen. Ihr Blick war auf den Vorsprung über Chandra gerichtet, auf die Quelle des Zaubers – auf Nissa.

Chandra, kannst du es schaffen?“, drangen Jaces gehetzte Worte in ihr Bewusstsein.

Chandras Faust glühte wie eine kleine Sonne, als ihr Blick zwischen Nissa und dem Eldrazihimmel hin- und herpendelte. Sie hätte das gesamte Firmament am liebsten mit Feuer überzogen und ihrem Zorn auf die Abscheulichkeiten, die ihre Freunde bedrohten, freien Lauf gelassen. Doch sie war sich nicht sicher, ob sie einen derart immensen Feuerstoß erzeugen konnte. Wie hätte sie sich dessen auch sicher sein sollen? „Ich glaube schon!“, erwiderte Chandra.

Du musst dir sicher sein. Sag es mir jetzt.

Chandra sah, wie Nissa ihr das Gesicht zuwandte. Irgendwie war es den blinden, grünen Augen der Elfe gelungen, Chandra inmitten all des Chaos zu finden, und nun nickte Nissa. Irgendwoher wusste sie, dass es möglich war, und in diesem einen Augenblick, als ein Band wechselseitigen Vertrauens geknüpft wurde, wusste Chandra es auch.

Ich bin sicher“, dachte Chandra.


Kiora hielt den Zweizack der Meeresgöttin hoch erhoben wie ein zum Schlag bereites Schwert.

„Die Zeit ist um, Revane.“

Sie bäumte sich auf und mit ihr das Wasser.

Und mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung schleuderte sie Nissa das gesamte Meer entgegen.

Nissas Augen weiteten sich.

Doch das Meer teilte sich in der Mitte, und jede Hälfte teilte sich erneut und teilte sich wieder und wieder, und die Wassermassen lösten sich auf und wurden zu Nebel. Wasser donnerte herab und fegte Eldrazi hinweg. Meeresbewohner prasselten zappelnd zu Boden.

Der Gedankenmagier stand zwischen Kiora und Nissa. Seine Augen leuchteten voller Macht unter seiner Kapuze, und in seiner ausgestreckten Hand knisterte bläuliche Magie.

Einen erschrockenen Wimpernschlag lang tat Kiora nichts. Dann brüllte sie – keine Worte, sondern nur rohe Laute der Wut.


Jetzt oder nie. Nissa mochte vor Kioras Zauber sicher sein, doch sie konnte jeden Augenblick zusammenbrechen. Entweder gelang es Chandra, die Titanen mit einem einzelnen Zauber restlos zu vernichten, oder sie würden ganz Zendikar verlieren – und die Eldrazi im Zuge dessen an die Blinden Ewigkeiten.

Chandra ließ den Zorn in sich anwachsen. Feuer züngelte ihr aus der Faust den einen Arm hinauf und den anderen herunter. Ihr Haar entflammte.

Sie dachte daran, wie sie Ulamog das erste Mal gesehen hatte, als sie nach Regatha zurückgekehrt war – daran, wie sich sein Bild in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, nachdem sie diese Welt verlassen hatte. Das konnte sie weder aus ihrem Bewusstsein tilgen noch Ruhe finden, solange er noch immer dort draußen war. Das waren die Eldrazi: geistlose, gigantische Schrecken, mit denen jede Koexistenz vollkommen unmöglich war. Würden sie von Zendikar freigelassen, würden sie Planeswalkern überall dorthin folgen, wohin diese reisten, alles Leben aufspüren, wo auch immer es erblühte, und ihm ein Ende bereiten. Chandra wusste, dass es das war, was ihre Freunde und sie entschlossen waren aufzuhalten. Dies war ihre Aufgabe. Dies war ihr Eid.

Ihre Hände brannten weißglühend. Sie schaute zu den leuchtenden grünen Ranken hinauf, den Leylinien aus Mana, die noch immer straff gespannt waren und die Titanen an diese Welt banden. Sie wusste, dass die Leylinien durchtrennt werden würden, sobald sie ihre Feuermagie wirkte. Sie zwang sich, heißer und heißer zu brennen, während Landmassen zur Erde taumelten, der Boden in Stücke zerbrach und das Meer zu kochen begann.

Chandra entfesselte den Zauber. Feuer strömte gen Himmel –

– und sofort wusste sie, dass etwas nicht stimmte.

Die wilde Feuerflut berührte die ineinander verschlungene Masse der Eldrazi, doch es war bei Weitem nicht genug. Ihr Feuer hatte den Titanen kaum einen Kratzer zufügen können, als sie noch endliche und greifbare Wesen gewesen waren. Nun konnte sie sie in ihrer Gesamtheit ebenso wenig verbrennen, wie sie eine ganze Welt verbrennen konnte.

Aus dem Augenwinkel sah sie eine der schwebenden Inseln vom Himmel fallen, und ein winziger Teil von ihr erkannte, dass sie genau auf sie herabstürzen würde. Gleichzeitig sah sie, wie die Glyphe drunten in der Senke hell leuchtete, als das Feuer über die Leiber der Titanen hinwegbrandete. Alles fiel auseinander. Die Macht der Glyphe würde bald versiegen. Ebenso wie ihr Zorn.

Bald würden sie alle sterben.

Sie nahm kaum wahr, wie Gideon von dem Vorsprung sprang und die Landmasse mit dem eigenen Körper abfing und ein Schauer kleiner Steinchen herabregnete, als sie an ihm zerschellte. Sie konzentrierte sich einzig darauf, so viel Feuer von sich zu schleudern, wie sie nur konnte, selbst wenn es nicht annähernd genug sein würde ...

Chandra spürte, wie sich ihr sanft eine Hand auf die Schulter legte.

Und dann spürte sie das Mana einer ganzen Welt in sich hineinströmen.

Die Leylinien. Nissa war der Brennpunkt für den gesamten Zorn Zendikars gewesen, und nun floss dieser Zorn dank Nissas Berührung stattdessen in Chandra.

Chandra war jetzt der Brennpunkt und der Nexus, der Zendikar mit den Titanen verband. Sie wusste, sie würde sie nicht so im Zaum halten können, wie Nissa es getan hatte. Daher versuchte sie etwas anderes.

Sie schrie.

Und durch ihrem Schrei zwang sie all den Zorn Zendikars durch sich selbst in ihren Zauber und in ihre Flammen.

Die Leylinien selbst fingen Feuer, entzündet wie Rinnsale aus Öl, auf die ein Funke traf. Flammen wirbelten von Chandra aus in die Manaströme und breiteten sich zum Himmel aus, wo sie den Leylinien folgten, die die Titanen einschlossen.

Entweder war es Chandra, die noch immer schrie, oder alles andere.

Die Welt blitzte in einem unheilvollen Gelbrot auf und wurde dann gleißend weiß. Chandras Beine gaben unter ihr nach, und sie brach zusammen.

Da war Donner und eine höllische Hitze und ein entsetzliches Geräusch, als der Himmel in Stücke barst. Während Chandras Bewusstsein dahinschwand, stellte sie für sich fest, dass dies das Geräusch einer sterbenden Welt sein musste.


Ödnis | Bild von Jason Felix

Kiora konnte durch den Rauch nichts sehen. Sie presste die Kiemen zusammen, doch sie schmeckte noch immer Asche. Feuer brannten im Dunst, und Pfützen dampften. Ascheflocken schwebten aus dem Grau über ihr herab. Sie dachte an den fahlen Staub, den Ulamog zurückließ, wenn er das Land verzehrte – war es das, was sie hier sah? Sie wanderte durch die dichte, undurchsichtige Luft und die eigenartige Stille und stolperte dabei über Leichen von Zendikari und Kadaver von Eldrazi gleichermaßen.

Sie durfte nicht hoffen. Sie durfte sich selbst nicht mit unnützem Staunen quälen. Sie durchsuchte das Grau und berührte Körper. Sie half ein paar Überlebenden, sich aufzurichten.

Vor einem Körper hielt sie an. Diesen hier kannte sie. Es war die Pyromagierin, die da im Schlamm lag, alle viere von sich gestreckt und das rote Haar um sich herum ausgebreitet wie ein Tuch. Kiora kniete nieder und drehte sie auf den Rücken.

Die Pyromagierin blieb einen Augenblick lang reglos, ehe sie plötzlich krampfhaft zuckend Schlamm hustete, den sie zur Seite hin ausspie. Als sie endlich den Kopf hob, tauschten sie Blicke aus. Kiora sagte nichts. Sie streckte eine Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Als die Pyromagierin sie ergriff, schnitt sie eine Grimasse und fasste sich an den Rücken. Kiora ließ sie los und einfach nur dort liegen.

Gemeinsam schauten sie nach oben zu der herabfallenden Asche.

Sie sahen zwei Gestalten am Himmel, doch es waren lediglich Nachbilder aus Rauch – wie die Geister eines Feuerwerks. Zwischen den sich auflösenden Türmen befand sich ein Flecken blauen Himmels.

Nach und nach tauchten noch andere Streiter aus dem Rauch auf. Sie scharten sich zusammen und trotteten humpelnd aufeinander zu. Gideon und Jace. Tazri. Noyan, Drana und Jori.

Und die Elfe. Nissa stolperte über einen Erdhügel und saß ganz plötzlich auf dem Boden. Ihr Blick war ins Leere gerichtet, doch Kiora sah, wie sich die Finger der Elfe in einen Flecken blanker Erde gruben, wo sich die Glyphe hineingebrannt hatte.

Die Kruste des Landes war nun ruhig. Viele der Landmassen waren zu Boden gestürzt, doch ein paar schwebten noch immer in der Ferne und trotzen der Schwerkraft, wie sie es schon immer getan hatten.

Kiora sah dabei zu, wie die anderen Überlebenden langsam erkannten, dass es vorbei war. Es gab keinen Jubel. Es gab keine Ansprache. Weder Erleichterung noch Freude legte sich über die Menge.

Ein paar Hände drückten Schultern.

Manch fragender Blick wurde ausgetauscht.

Köpfe wurden geschüttelt oder nickten.

Verbandsmaterial wurde hervorgeholt. Heilende Hände berührten die Verwundeten. Suchtrupps wurden zusammengestellt. Retter versammelten sich um Gruben oder Gräben, die mit Meerwasser gefüllt waren. Einige letzte Eldrazi wurden entdeckt und zur Strecke gebracht.

Kiora befestigte sich den Zweizack auf dem Rücken. Sie blickte erst in die erschöpften, schmutzigen Gesichter der Verbündeten und wandte sich dann in der entgegengesetzten Richtung zum Horizont. Sie ließ die Ruinen von Seetor hinter sich und setzte die Füße in Bewegung. Links, dann rechts, links, dann rechts. Und lange Zeit blieb sie nicht wieder stehen.


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Weltenbeschreibung: Zendikar