Was bisher geschah: Die Offenbarung des Auges

Noyan Dar gehörte einst zu den Ruhezauberern, einer ehrwürdigen Schule von Magiern, die durch unentwegtes und gewissenhaftes Üben gelernt hatten, Zendikars Zorn zu besänftigen. Ihr einziges Ärgernis war die Turbulenz, jenes unberechenbare magische „Wetter“, das alles Mögliche mit sich bringen konnte – von Sturmböen und Windhosen bis hin zu Erdrutschen und urplötzlichem Pflanzenwuchs. Kluge und erfahrene Erforscher der Wildnis nahmen stets mindestens einen Ruhemagier auf ihre Erkundungsreisen mit, um sich nicht auf Gedeih und Verderb den Elementen auszuliefern.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Eldrazi treiben ihr Unwesen. Gideon Jura ist auf der Suche nach Verbündeten, um sich den Eldrazi in Seetor entgegenzustellen. Und ausgerechnet die Turbulenz – ehedem Zendikars tödlichste Gefahr – könnte nun zu einer entscheidenden Waffe bei seiner Befreiung werden.


„Ausgeglichenheit ist der Tod!“ Die Stimmen der Initianden klangen klar, wenn auch nicht schön, in der feuchten Luft. Man hatte sie gelehrt, die Litanei zu schreien und sie sogar laut zu kreischen, ungeachtet dessen, was diese Laute Noyan Dars Ohren antaten. Missklänge waren nicht zu ignorieren, sondern vielmehr zu begrüßen.

„Stille ist der Tod!“ Die Ruferin wiegte sich in einem sonderbaren Tanz, während sie die Gruppe durch die Litanei leitete. Die Erde kräuselte sich wild unter ihren Füßen, so sehr, dass die Frau gelegentlich ins Stolpern geriet. Wenn dies geschah, stieß sie eine hohe Intonation jener Silbe aus, die gerade ihren Lippen entfuhr, ohne jede Rücksicht auf Takt, Tempo oder die guten Sitten. Es war alles andere als angenehm, den Morgen damit zuzubringen, jemand anderem dabei zu lauschen, wie er wiehernd und krächzend „Tooooood!“ schrie.

Was jedoch traurigerweise genau der Sinn des Ganzen war.

Dieser gesamte Aufmarsch war unangenehm. Noyan stellte sich vor, welche Art von Umgebung ein Meervolkmagier von herkömmlicher Brillanz – der die See liebte und in jedem Wortgefecht zur rechten Zeit stets eine kluge Erwiderung parat hatte – wohl für sich erschaffen mochte. Es wäre zweifellos das genaue Gegenteil dieser Zuflucht in Korallenhelm, die meilenweit von jeder Klugheit entfernt und stattdessen entweder von den Wahnsinnigen oder den Unfähigen oder beidem umlagert war.

Rückzug nach Korallenhelm | Bild von Kieran Yanner

Der Umstand, dass er derjenige war, der die Verantwortung für die Errichtung dieser Zuflucht trug, schenkte ihm einen flüchtigen Augenblick ironischer Heiterkeit. Hauptsächlich jedoch machte es ihn äußerst gereizt.

Was ebenfalls traurigerweise genau so gewollt war.

„Frieden bedeutet Tod!“ Noyan Dar bedauerte vieles am Erwachen der Eldrazi. Er hatte seine Heimat verloren, seine Ruhe und die Fähigkeit, gegen Feinde zu kämpfen, die er sichtlich zu verwirren vermochte. Am meisten jedoch bedauerte er die unzähligen Male, in denen er diesen verfluchten Gesang hatte hören müssen. Dass er selbst diese Litanei geschrieben hatte, verschaffte ihm keinerlei Genugtuung, nicht einmal in ironischer Hinsicht. Es war ein absichtlich schlechter und unrhythmischer Gesang, den zu hören er offenbar für den Rest seines Lebens verdammt war.

Oder zumindest so lange, bis die Eldrazi kamen und ihm die Eingeweide herausrissen oder sein Gehirn schmolzen oder ihn in Staub verwandelten. Es war wichtig, etwas zu haben, worauf man sich freuen konnte.

Wenigstens musste Noyan die Initianden nun nicht mehr in ihren Ritualen anleiten. Einige unter ihnen, die sich dadurch auszeichneten, ein bisschen weniger unfähig zu sein als der Rest, hatten sich der Durchführung der Rituale als ihre ganz persönliche Form der Erlösung angenommen. Es tatsächlich zu meistern, die Turbulenz einzusetzen, ohne dabei sich und andere umzubringen, war äußerst schwer. Takt und Tempo und Noyan Dars Ohren zu malträtieren, war hingegen höchst trivial.

Die Ruferin stolperte durch den nächsten Satz und setzte sämtliche Anwesenden einer gequälten Darbietung von „Die Welt wogt!“ aus. Die anderen Initianden versuchten pflichtschuldig, in ihre lang gezogenen Töne einzufallen, wobei viele dem gemeinsamen Chor ihre eigene einzigartige Atonalität hinzufügten und dabei genau das erzeugten, was Noyan für die buchstäbliche Definition einer Kakophonie hielt.

Dies alles diente dem größeren Wohl und wurde – wie die meisten Opfer an das größere Wohl – von wahrlich niemandem geschätzt.

Die nächsten Worte der Litanei dröhnten ihm schon im Schädel – „Es bebt! „Es lebt!“ –, ehe er mit einem Mal bemerkte, dass er in Wahrheit keines davon hörte. Er blickte auf und sah, dass die Ruferin und die Initianden auf irgendetwas hinter ihm am Himmel starrten, was sich ihnen von Süden her näherte. Noyan wandte sich um und sah einen Lenkdrachensegler der Kor, der einen Passagier in einem Geschirr beförderte. Sie waren nur Minuten vor der Landung, doch sie kamen aus der falschen Richtung.

Turbulenzfontäne | Bild von Igor Kieryluk

Die Zuflucht in Korallenhelm war schwer zu erreichen. Die von allen Seiten von einer Felsklamm geschützte, schwebende Landmasse war mit den Kanten der Steilwände vertäut. Einem geübten Klippenläufer der Kor war es sicher möglich, sich an den Seilen entlangzuhangeln, doch die meisten Besucher der Zuflucht erreichten sie aus der Luft. Allerdings nur von Norden her. Selbst ohne die Turbulenz waren die Winde in den Schluchten unberechenbar und gefährlich. Angesichts der Turbulenz und insbesondere Dutzenden von Ruhezauberern, von denen die meisten nicht unbedingt als sonderlich fähig zu bezeichnen waren, konnte man es daher kaum als Überraschung werten, dass man sich nun sogar felsenfest auf die Gefährlichkeit der hier herrschenden Winde verlassen konnte. Vor allem dann, wenn man aus dem Süden kam, weshalb sich alles Kommen und Gehen auch vornehmlich auf der anderen Seite ihrer schwebenden Zuflucht abspielte. Dieser törichte Lenkdrachensegler würde sehr schnell und sehr endgültig eins mit Zendikar werden.

Noyan rannte mit wedelnden Armen und rasselnder Lunge los. Der Lenkdrachensegler hörte ihn nicht und bereitete sich auf den Landeanflug und die Landung selbst vor, als ihn ein wilder Aufwind erfasste und ihn samt seinem Passagier mit solcher Wucht mehr als zwanzig Schritt in die Höhe und zur Seite schleuderte, dass das Geschirr abgerissen wurde und sein Insasse Hunderte von Fuß in die Tiefe fiel.

Noyan konnte nichts tun, als den Sturz des Mannes erst voller Schrecken und dann voller Verwirrung mit anzusehen. Anders als Noyan Dar wedelte er weder mit den Armen noch schrie er oder sah auch nur beunruhigt aus. Er fiel voller Anmut, wenn so etwas überhaupt möglich war, obwohl er ganz eindeutig in den Tod stürzte. Noyan rannte weiter und begann, einen Zauber zu wirken, um den Sturz des Mannes abzufangen, obwohl er bei dieser Geschwindigkeit nur dafür sorgen würde, dass die Leiche in etwas besserer Verfassung blieb.

Funkelndes, goldenes Licht blitzte auf und der Körper des Mannes leuchtete. Noyan sah eine schimmernde Welle unter dem Stürzenden entstehen, unmittelbar bevor dieser auf dem Boden aufkam. Die Wucht des Aufpralls fuhr selbst Noyan noch die Beine hinauf, versetzte ihn ins Straucheln und ließ ihn der Länge nach hinschlagen.

Als Noyan ausgebreitet am Boden lag und stöhnend in sich hineinhorchte, ob er sich etwas gebrochen hatte, hob er den Kopf und erwartete, eine Art grässlichen, blutigen Pfannkuchen zu erblicken. Stattdessen war da ein hochgewachsener Mann in einer Rüstung, auf der sich die Sonne hinter ihm gleißend spiegelte. Kein Schrei, kein Blut, keine gebrochenen Knochen oder gar auch nur ein Kratzer.

Noyan rappelte sich langsam auf und fragte sich noch immer, wie der Mann hatte überleben können. Hinter ihm war es dem Lenkdrachensegler gelungen, sicher zu landen. Er rannte auf sie zu, um vermutlich nach seinem Passagier zu sehen. Dieser blickte Noyan prüfend an und sagte: „Ich bin Gideon Jura. Ich suche nach dem Turbulenzmagier Noyan Dar. Ihr habt da etwas Blut an der Nase. Geht es Euch gut?“ Der besorgte Blick wirkte derart aufrichtig, dass Noyan am liebsten geschrien hätte.

Und das tat er, wenn auch nur ein ganz klein wenig. So gut hatte er sich den ganzen Morgen noch nicht gefühlt.

Gideon, Verbündeter von Zendikar | Bild von Eric Deschamps


„Es zerstört oder es stirbt!“ Die Initianden hatten ihre fröhliche Litanei wieder aufgenommen, und Gideon Jura hob eine Augenbraue.

„Man sagte mir, Ihr wärt der Anführer einer Streitmacht herausragender Elementaristen.“ Gideon drehte den Kopf und blickte kurz zu den etwa zwei Dutzend von Noyans Initianden, die nun wieder im Hof standen, den Himmel ankreischten und die Arme ebenso wild wie wahllos in die Luft warfen. „Üben sie vielleicht gerade in dem Gebäude dort drüben ... ?“ Gideon spähte quer über den Hof zu den leeren Wohnquartieren dahinter.

„Sie sind unsichtbar. Es ist schwierig, eine herausragende Streitmacht zu sein, wenn einen jeder sehen kann.“ Gideon starrte Noyan ungerührt an. Noyan fühlte sich besser und besser.

„Findet euren inneren Frieden! Tötet ihn! Zermalmt ihn!“ Viele der Initianden machten während dieses Teils des Rituals hackende oder stampfende Bewegungen. Manche verspürten offenkundig große Freude dabei, in aller Deutlichkeit zu veranschaulichen, wie gründlich sie ihrem inneren Frieden den Garaus machten. Ungezählte Grashalme hatten schon der Bezwingung des inneren Friedens wegen unermessliches Leid erlitten.

Gideon hob eine Augenbraue. „Das sind sehr ... ungewöhnliche Schlachtrufe. Können wir an einen etwas ruhigeren Ort gehen?“ Eine kleine Gruppe tollpatschiger und unmusikalischer Initianden hatte vollbracht, was einem Sturz aus zweihundert Fuß Höhe nicht gelungen war: Gideon Jura Unbehagen zu bereiten.

Noyan Dar hob eine Hand und ließ sie wieder herabsausen. Der Boden grollte einen Augenblick lang und wurde dann leiser. Auch die Ruferin und die Initianden verstummten. „Initianden, übt eure Formen. Seid dabei bitte ... besonnen.“ Die Initianden hatten durch schmerzhaften Fehler um schmerzhaften Fehler gelernt, was es mit dieser Besonnenheit auf sich hatte.

Als sie in Richtung der Mitte der Lichtung gingen, fiel Noyan auf, von welchem Gleichgewichtssinn die Bewegungen des Mannes neben ihm geprägt waren. Er ging perfekt gemessenen Schrittes, und jeder einzelne davon war trittsicher und von der Haltung her so ausgeführt, dass er sich jederzeit hätte ducken oder springen oder angreifen können – ganz, wonach ihm gerade der Sinn stand. Noyan hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, der über derlei beachtliche Körperbeherrschung verfügte.

Gideon Jura hätte einen entsetzlich schlechten Turbulenzmagier abgegeben.

„Wie habt Ihr den Sturz überlebt?“ Noyan fand das außerordentlich bemerkenswert. Wenn Turbulenzmagier diese Art von Schutz irgendwie erlernen konnten, würde eine wesentlich größere Zahl von ihnen länger am Leben bleiben. Gleichzeitig würde dann natürlich auch die Lebenserwartung all jener steigen, die keine Turbulenzmagier waren.

„Ich kann ... Schaden widerstehen.“ Gideon hielt inne und blickte ihn wortlos an. Noyan sprach ebenfalls nicht. Er hoffte, dass die Abwesenheit von Worten Gideon dazu ermuntern würde, die Leere zu füllen. Nach einigen Augenblicken des Schweigens versuchte Noyan, ihm auszuhelfen.

„Ihr scheint auch ... Erklärungen zu widerstehen.“ Gideon starrte ihn weiter an. Darin schien er ein wahrer Meister zu sein.

„Man sagte mir, Ihr und Eure Streitmacht beherrschten die Erde, die Luft, das Wasser. Wir brauchen Eure Hilfe in Seetor.“ Dann beschloss Gideon erneut, das Sprechen sein zu lassen. Er schien sich wesentlich wohler dabei zu fühlen, beredsame Pausen und forschende Blicke zur Verständigung einzusetzen anstatt so etwas wie Worte. Noyan fand, dass dies womöglich eine Sprache war, die zu erlernen sich durchaus lohnte.

In alle Winde verwehen | Bild von Raymond Swanland

„Erstens befinden uns mitten in der Ausbildung und können nicht einfach so nach Seetor scharwenzeln. Zweitens sind wir keine ... Elementaristen.“ Er machte eine Pause, um den Spott in seinen Worten klar und in vollem Umfang zur Geltung zu bringen, und blickte Gideon erwartungsvoll ins Gesicht. Offensichtlich verstand Gideon diese Sprache nicht so gut, wie er sie sprach. Nach einigen weiteren Augenblicken des Schweigens war Noyan verstimmt. Absichtliches Schweigen war langweilig.

„Niesen die Leute dort, wo Ihr herkommt?“ Viel besser war es, beleidigend zu werden.

Gideon blickte ihn verständnislos an. „Ihr wisst schon: Hatschi!!“ Noyan äffte ein menschliches Niesen nach – mit einer beachtlichen Menge Rotz zum Abschluss. Gideons Blick wurde noch verständnisloser.

„Ja, ich weiß, was Niesen ist“, erwiderte er. Immerhin gab es keine bedeutungsschwangere Pause oder einen prüfenden Blick.

„Mein Volk hier kennt viele Geschichten und Legenden über die drei Götter. Eine der Lieblingsgeschichten der Kinder ist ‚Ula und das Niesen des Ozeans‘. Cosi überzeugt Ula von der Existenz einer mächtigen magischen Perle, die tief im Herzen des Meeres verborgen ist. Also sucht Ula nach diesem Herzen des Meeres, um die Perle zu stehlen. Als er es schließlich findet und hineingreift, um die Perle herauszuziehen, kitzelt sein Ärmel das Innere des Herzens und es niest. Ula wird in einem gewaltigen Kokon aus festem, weißem Rotz eingesperrt, bis Cosi des Weges kommt, um ihn zu befreien.“ Noyan lächelte.

„Weißer Rotz.“ Der leere Ausdruck in Gideons Gesicht drohte, für immer zu bleiben.

„Es geht nicht um den weißen Rotz, so interessant er auch sein mag. Es geht um das Niesen.“ Kein Funke der Erleuchtung versuchte, den verständnislosen Blick zu übermannen. Er blieb der klare Sieger. Noyan seufzte. Welchen Sinn hatte es schon, schlauer als der Feind zu sein, wenn dieser es nicht einmal mitbekam? Er vermochte nicht zu sagen, ob Gideon oder die Eldrazi in dieser Hinsicht schlimmer waren.

„Die Turbulenz“, fuhr Noyan fort, „ist das Niesen. Die Eldrazi reizen die Welt. Die Turbulenz baute sich im Lauf der Zeit als natürliche Verteidigung gegen ihre Anwesenheit auf. Vor dem Auftauchen der Eldrazi verbrachten diejenigen unter uns, die sich Ruhezauberer nannten, Jahre damit, die Kunst zu meistern, die Turbulenz zu besänftigen. Als wären wir Heiler, die ein Fieber lindern.“

„Doch dann kehrten die Eldrazi zurück.“ Noyan war dankbar für die bloße Anwesenheit Gideon Juras, dieses Meister des Offensichtlichen, damit die Illusion einer Unterhaltung aufrechterhalten werden konnte.

„Doch dann kehrten die Eldrazi zurück. Und mit ihnen die Turbulenz in ihrer vollen Blüte.“

„Es sollte also einfach sein, ein Turbulenzmagier zu sein.“

„Leicht, ja. Es gibt da nur zwei Probleme. Erstens ist es einfach, die Turbulenz zu intensivieren, doch dies zu tun, ohne dabei sich selbst und sämtliche Umstehenden zu töten, ist sehr, sehr schwierig. Es sei denn, Ihr könnt ... Schaden widerstehen.“ Gideons Augen verengten sich, doch Noyan fuhr fort.

Trick des Turbulenzmagiers | Bild von Johann Bodin

„Zweitens sind die Magier, die am meisten Erfahrung mit der Turbulenz haben ...“

„Alles Ruhezauberer, die Jahre damit verbracht haben, genau das Gegenteil zu lernen“, beendete Gideon seinen Satz. Noyan lächelte. Eine wahrhaft kluge Antwort! Das Leben war voller Überraschungen.

„Richtig. Die Instinkte niederzuringen, die Turbulenz zu besänftigen, und sie stattdessen zu verstärken, stellt ein Umdenken dar, das viel Übung erfordert. Genau genommen ...“ Noyan hob dramatisch die Arme. Ein lautes Donnern erklang. Die Turbulenzmagier eilten herbei und bildeten einen großen Kreis um Noyan.

„Llura, leite bitte die Litanei. Noch einmal ganz von vorn.“

Llura trug ein breites Lächeln im Gesicht, als sie zu kreischen und zu zucken begann. Gewissenhaft taten es ihr die Initianden gleich. Jedes unpassende Wort riss ein Loch in das Gewebe des Anstands, das sich nie würde flicken lassen.

„Ausgeglichenheit ist der Tod!
Ruhe ist der Tod!
Frieden ist der Tod!

Die Welt wogt!
Sie bebt!
Sie lebt!
Sie zerstört oder stirbt!

Findet euren inneren Frieden!
Tötet ihn! Zermalmt ihn!
Vereint euch mit nichts!
Spürt eure Einsamkeit! Eure Angst! Ihr seid am falschen Ort!
Jeder eurer Schritte erzeugt Missklang und Chaos!
Ihr werdet leben! Ihr werdet beben! Ihr werdet wogen!
Ihr müsst zerstören oder sterben!“

Trotz all der grauenvolle Worte kam Noyan nicht umhin, zufrieden zu sein. Die Litanei war erstaunlich wirksam darin, die Initianden in die richtige Geisteshaltung zu versetzen. Er blickte zu Gideon, der nun beide Augenbrauen gehoben hatte. Sein üblicher leerer Blick war endlich von einem entsetzten, weitäugigen Schweigen verdrängt worden.

„Vielleicht ... vielleicht war das keine so gute Idee“, keuchte Gideon.

Keine so gute Idee? Noyan war den Großteil des Tages gereizt gewesen – wie an den meisten Tagen, seit er ein Turbulenzmagier geworden war –, doch dies war das erste Mal, dass er zornig wurde. Dieser gepanzerte Tölpel war in seine Schule gekommen und einfach so davon ausgegangen, ihn und seine Schüler herumkommandieren zu können – nur um jetzt zu beschließen, dass sie nicht gut genug waren? Keine so gute Idee!

„Eine praktische Vorführung scheint mir angemessen“, sagte Noyan. „Ich bestehe darauf.“


Es dauerte einen Großteil des Morgens, Gideon, Noyan und die Initianden zum Hauptkontinent Tazeem überzusetzen. Sie befanden sich zwar noch viele Meilen von Seetor entfernt, doch die Häufigkeit der Eldrazi hatte in den letzten Monaten beachtlich zugenommen. Es war nicht allzu schwierig, marodierende Schwärme zu finden.

Einen kurzen Augenblick fragte sich Noyan, ob Gideon vielleicht insgeheim eine Art taktisches Genie war. Trug er die Fassade eines tumben Kriegers nur vor sich her und war im Begriff, Noyan durch dessen eigenen Stolz dazu zu bringen, die Turbulenzmagier vor seinen Karren zu spannen? Der Augenblick verging und Noyan schob den Gedanken beiseite. Erstens war Noyan zweifellos der Einzige, der einen derart kühnen Plan ersinnen konnte. Und zweitens war Gideon Jura ein Dummkopf. Und kein Dummkopf konnte ein derart versierter Täuscher sein.

Noyans Plan war simpel und elegant. Gideon war ein Hemmnis, das viele unnötige Fragen über Eventualitäten stellte, welche nicht eintreffen würden, wie ihm Noyan versicherte. Irgendwann zog sich Gideon erneut darauf zurück, nur noch über das Hochziehen der Augenbrauen zu kommunizieren. Er stellte eine erstaunliche Leichtigkeit dabei zur Schau, sowohl seine rechte als auch seine linke Augenbraue zu heben. Er war ein Mann vieler Talente, dieser Gideon Jura.

Gideon hatte sich am meisten über die Konsequenzen besorgt gezeigt, angesichts ihrer geringen Zahl Eldrazi anlocken zu wollen. Er hatte mehrere kleine Gruppen vorgeschlagen, doch diese waren von Noyan eine nach der anderen abgelehnt worden. Sie brauchten eine Gruppe, die groß genug war, um eine passende Bühne für die Vorstellung zu bieten. Auf einer bereits verdorrten Ebene fanden sie eine abgeschnittene Gruppe von einigen hundert dieser Kreaturen: Brut und Drohnen und ein paar größere, die Noyan als „Abkömmlinge“ Ulamogs bezeichnete.

Ebene | Bild von Vincent Proce

Die Initianden waren unruhig und aufgeregt, als sie in einem großen Kreis Aufstellung nahmen. Andererseits waren sie im Grunde beinahe immer unruhig und aufgeregt. Es war nicht einmal das erste Mal, dass sie mit Eldrazi in Berührung kamen ... Das brachte das Leben auf Zendikar eben so mit sich. Es war jedoch das erste Mal, dass sie ihre Magie gemeinsam einsetzten, um gegen die Eldrazi zu kämpfen. Dies war ihre erste richtige Prüfung.

Während die Initianden einander und sich selbst im Zuge bizarrer Vorbereitungsrituale voller Zuckungen anschrien, blieb Gideon völlig reglos. Glatt, aufrecht und – wenig überraschend – schweigend. Als sich die ersten Eldrazi zu versammeln begannen, glitten leuchtende, geschmeidige Metallklingen aus einem Mechanismus in Gideons Hand. Noyan verdrehte ungläubig die Augen. Am liebsten hätte er Gideon geohrfeigt, doch dies hätte ihn am Ende wohl doch nur ein paar Finger gekostet. Welcher gesunde Mensch bei klarem Verstand ließ Klingen aus der eigenen Hand schießen?

Noyan hatte angenommen, er müsste irgendeine Art von magischem Leuchtfeuer erschaffen, um die Eldrazi anzulocken, doch das schien unnötig. Die Eldrazi schwärmten in die Richtung, in der sich Gideon und Noyan befanden, ohne den Initianden irgendwelche Beachtung zu schenken. Da er diese Reaktion noch nie zuvor selbst erlebt hatte, schlussfolgerte Noyan, dass die wahrscheinlichste Erklärung wohl die war, dass sie Gideon ebenso unausstehlich fanden wie er selbst.

Vielleicht waren die Eldrazi doch vernunftbegabt.

Gideon starrte Noyan an. „An welchem Punkt beginnt ein Turbulenzmagier, die Turbulenz einzusetzen? Hier draußen gibt es eine Menge Eldrazi.“ Selbst unausstehliche Dummköpfe hatten bisweilen recht. Noyan breitete die Arme aus und bedeutete seinen Initianden, mit der Übung zu beginnen. Im Unterricht nannten sie es „den Kreis wirken“. Die Initianden begannen ihre Zwiesprache mit der Turbulenz, jeder auf seine eigene Weise. Einige sprachen zur Erde, andere zur Luft. Es gab zwar kein größeres Gewässer in der Nähe, doch einige Turbulenzmagier sprachen zu dem allgegenwärtigen Wasser im Inneren der Welt.

Es war an der Zeit für Noyan, seine eigene Magie zu wirken.

Fühle die Gereiztheit. Es ist die Mücke in der Nacht, das Jucken zwischen den Schulterblättern, der rohe Schmerz, der nie verheilt. Es ist das Niesen, das doch nicht kommt, der Essensrest zwischen den Zähnen, das Geschrei eines Kindes, das nicht das eigene ist. Spüre es.

Noyan nahm die Welt um sich herum kaum wahr. Am Rand seines Bewusstseins blitzten kurze Eindrücke auf, wie Gideon seine leuchtenden Klingen in einem wahren Kaleidoskop der Kunstfertigkeit umherwirbeln ließ, das Noyan gewiss prätentiös und ermüdend vorgekommen wäre, wenn er ihm seine volle Aufmerksamkeit hätte schenken können. Die Eldrazi drangen auf sie ein, und Gideon hielt sie in Schach.

Guter Junge, versuchte Noyan zu sagen, doch die Turbulenz verlangte mehr und mehr Beachtung von ihm.

Jede kleine Peinlichkeit im Umgang mit anderen, jede verfehlte Note und jede unbeholfene Bewegung, jedes einzelne Wort, das jenem dunklen Loch, das Gideons Mund war, entschlüpft war, jedes Fünkchen Fremdheit und Bitterkeit dieses Tages – all das kehrte Noyan Dar zusammen, um es in sich aufzustauen. So fühlte sich die Welt, so fühlte sich Zendikar, wenn die entsetzlich fremdartigen Eldrazi es berührten.

In dem größeren Kreis war es den Initianden gelungen, sich mit Teilen der Turbulenz zu verbinden. Der Boden unter ihnen und Noyan grollte und bebte, Windböen heulten klagend und die Initianden bewegten Erde, Luft und Wasser in einem Halbkreis vor und zurück. Wuuusch, wuuuusch, ächzte der Boden, als er sich in dem Versuch, sich mit dem Kreis zu drehen, hob und senkte. Die Initianden stimmten ihre Bewegungen und ihren Rhythmus nun nach und nach aufeinander ab. Der große Kreis aus Erde, der Gideon und Noyan umgab, begann erst in die eine, dann die andere Richtung zu rotieren.

Inspirierter Ansturm | Bild von Willian Murai

Die grollende und bebende Erde unter ihnen machte die Eldrazi rasend. Ihre Trägheit wich einer immer stärker werdenden Regsamkeit, als sie sich auf Gideon und Noyan stürzten. Gideons Haut leuchtete und goldene Funken eines unsichtbaren Schilds schimmerten beständig, als er sich in einen nie enden wollenden Wirbel aus Hieben und Schlägen verwandelte. Ein Tentakel eines Eldrazi holte nach Noyans Gesicht aus, doch irgendwie warf sich Gideon noch rechtzeitig dazwischen, um den Fangarm wegzuschlagen und den Eldrazi in einer einzigen, unmöglich scheinenden Bewegung zu enthaupten. Die größeren Eldrazi waren beinahe bei ihnen angekommen. Gideon atmete schwer. „Wenn Ihr irgendetwas tun wollt, um die Eldrazi tatsächlich zu töten, schlage ich vor, dass Ihr es bald tut. Ich kann Euch nicht ewig am Leben erhalten.“

Die Turbulenz war nah. So nah. Sie wollte zurückschlagen, doch Noyan erlaubte es ihr nicht. Noch nicht. Die Gereiztheit in Noyan – und in der Erde – wuchs. Die Initianden hatten ihre Zauber zu einem einzigen eigenständigen Rhythmus verwoben und endlich jenen Takt gefunden, an dem sie den den ganzen Morgen über gescheitert waren. Wuuuusch, wuuuuusch, als sich der Fels löste und noch heftigere Winde aufkamen. Die Welt wollte sie alle vernichten, jede verfluchte Berührung der Hand des Verfalls auslöschen. Die Turbulenz wogte und bäumte sich auf, verzweifelt nach Erlösung trachtend.

Der Endlose | Bild von Jason Felix

Ein Eldrazi, zweimal so groß wie Gideon, senkte eine Gliedmaße, dicker als ein Baumstamm, auf sie herab. Gideon hob den Arm und das gewaltige Körperteil prallte in einem Wirbel goldener Funken auf seinen Energieschild. Doch Gideon sank auf ein Knie, und der Eldrazi setzte bereits zu einem neuerlichen Schlag an.

„Jetzt, Magier!“, knurrte Gideon.

Lebe, bebe, woge, zerstöre.

„Ihr seid unverwundbar, oder?“, rief Noyan. Gideon nickte.

Lebe, bebe, woge, zerstöre.

Noyan Dar, Turbulenzformer | Bild von Karl Kopinski

Noyan wirkte seinen Zauber. Die gesamte Erde zwischen Noyan und dem Kreis der Initianden löste sich zu einem Wirbel aus Wind, Magma und Felsen auf. Wo sich gerade noch Hunderte von Fuß festen Untergrunds befunden hatten, war nun ... nichts. Die Eldrazi und Gideon wurden durch einen Sturm wirbelnden Gerölls geschleudert. Noyan sah, dass Gideons Schild unaufhörlich golden leuchtete, während er fiel.

Brodelnde Erde | Bild von Titus Lunter

Der Lärm des gerade noch chaotischen Kampfes war Stille gewichen. Noyan stand allein auf einem Flecken Erde, der kaum zwei Fuß maß. Hunderte von Schritt in jede Richtung erstreckte sich nun eine Kluft, eine große Leere, die ihn von seinen Initianden trennte, die ungläubig auf das blickten, was sie gerade heraufbeschworen hatten. Sie schauten auf den Abgrund und dann einander an und brachen in Jubel aus. Als die Trümmer tief unter ihnen zum Stillstand kamen, sahen sie die Kadaver der Eldrazi und eine einsame Gestalt, die von leuchtenden, goldenen Funken umgeben war, als die letzten Steine und Feuer in den Abgrund hinabfielen.

Noyan lächelte. Was für ein fantastischer Augenblick! Er bedauerte nur, dass Gideon im Fallen nicht auch nur ein einziges Mal geschrien hatte. Was musste denn noch geschehen, um diesen Mann zu beunruhigen?


„Ihr habt eine mächtige Truppe, Noyan Dar. Wir würden uns freuen, Euch bei uns in Seetor zu wissen. Wir brauchen Euch.“

Die Initianden ... Nein, das war nicht richtig. Die Turbulenzmagier versammelten sich um sie und jubelten. Nachdem Noyan und Gideon gerettet worden waren, hatten sie sich alle auf eine Siedlung auf einer Klippe in der Nähe von Korallenhelm zurückgezogen. Noyan strahlte. Endlich hatte dieser Mann den wahren Wert der Turbulenzmagier erkannt! Es war schwer, nicht selbstzufrieden zu sein. „Ich schätze, es war doch eine gute Idee, uns aufzusuchen.“

„Ja, das war es.“ Gideon blickte Noyan unverwandt an, doch da war etwas in seinen Augen, was es Noyan schwer machte, darüber Scherze zu treiben. „Es tut mit leid, Noyan, dass ich an Euch gezweifelt habe. Diese Vorführung war überwältigend.“ Gideon lächelte, und Noyan stand einfach nur da, schweigend und wie betäubt ob des Stolzes, den er empfand, weil ein dummer Krieger ihn gelobt hatte.

Die Turbulenzmagier schafften Speis und Trank herbei. Heute Abend würde es ein großes Fest zu Ehren ihres Sieges geben. Die Eldrazi würden auch morgen noch da sein.

Gideon bedeutete dem Lenkdrachensegler, der ihn hergebracht hatte, Vorbereitungen für die Abreise zu treffen. „Ich muss zurück nach Seetor. Werdet Ihr alle morgen nachkommen?“

„Ja, Gideon Jura. Wir werden da sein.“ Noyan wollte noch etwas sagen, mit Vorliebe etwas Wortgewandtes und Spitzes, doch ihm fiel nichts ein. All seine Scharfzüngigkeit schien plötzlich verschwunden.

Gideon wandte sich um. „Eine Frage noch, bevor ich gehe. In der Geschichte, die Ihr mir erzählt habt, die über Cosi und Ula ... Wer hat die Perle am Ende bekommen?“

Noyan grinste. „Cosi natürlich. So enden die meisten Geschichten über Cosi. Er überredet Ula, etwas zu tun, was dieser eigentlich gar nicht vorhatte zu tun, und dann profitiert Cosi davon.“ Noyan liebte die Geschichten über Cosi.

Gideon lächelte. „Er ist klug, dieser Cosi. Zu klug für mich, will ich meinen. Ich sehe Euch in Seetor, Noyan.“ Gideon drehte sich um und legte das Geschirr des Lenkdrachens an, der sich daraufhin alsbald auf den Rückweg nach Seetor machte. Noyan blickte ihnen nach, verwirrt von Gideons freimütigem Geständnis, dass seine geistigen Fähigkeiten begrenzt waren, und über das sonderbar leichtherzige Lächeln auf seinem Gesicht sinnierend.

Erst viel später am Abend – nach jeder Menge Wein und weiteren Überlegungen hinsichtlich Gideons letzter Worte – wurde Noyan Dars Hochgefühl zu einem sehr blanken, geradezu ausdruckslosen Starren.

Präriefluss | Bild von Adam Paquette


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